Heldenallee (1999)
Sonntags waren sie bei Eirat, dem Armenier,
eingeladen, der sich je nach Bedarf
als Psychiater oder Psychologe vorstellte. Eirat produzierte am laufenden Band
Ideen für die Kooperation, unternahm aber nichts, sie umzusetzen. Seine Frau war
anders. Sie war es auch, die vom Krieg der Mafiabanden erzählte.
Ende der 90-er Jahre gab es wenige Taxis
und nachts war es gefährlich, ein Auto
anzuhalten, so gingen sie zu Fuß zurück, an baufälligen Holzhäusern vorbei, über
trostlose Hinterhöfe ohne Gärten und Blumen. Wozu Blumen, sie würden doch
gestohlen werden. Wo das Licht der Straßenlampen hinfiel, sah man Unkraut und
kümmerliche Birken. Tamara kannte alle Abkürzungen, schmale Wege im
moorigen Boden, natürlich unbeleuchtet. Sie ging schnell, es war unmöglich, eine
Unterhaltung zu führen. In den hölzernen Bürgersteigen fehlten Bretter, es hieß
aufpassen, um nicht in ein Loch zu stolpern. So ganz nebenbei fragte sie, ob er am
Sonntag zum Grab ihres Vaters mitkomme. Natürlich wollte er, Friedhöfe sagen viel
über eine Gemeinschaft aus. Auch hatte er ihren Vater, Professor an der
Technischen Hochschule, gekannt, der ihm Fotos gezeigt hatte, als er sowjetischer
U-Boot- Kommandant im Krieg gewesen ist. Ihr Vater hatte auch von
Chruschtschows Befehl zum Maisanbau erzählt, nachdem er die Maisfelder in den
USA gesehen hatte. Ein Freund war für den Maisanbau im Gebiet zuständig, hatte
Angst, weil die Pflanzen erst zwanzig Zentimeter hoch waren und der Sommer fast
um war. Ein Kollege aus Murmansk hatte ihn beruhigt: Bei ihm seien die Pflanzen
erst zehn Zentimeter hoch. Nicht einmal Stalin hätte das Klima ändern können.
Tamara und der Professor hatten sich am
Flussbahnhof verabredet. Er wartete vor
dem sechsstöckigen Block gegenüber auf den Bus Nummer sieben. Die
Schaffnerin in der abgetragenen Uniform nahm die alten Rubel nicht, die Währung
war gerade umgestellt worden. Es bedurfte artistischer Fähigkeiten, sich im vollen
Bus bei dem Gerüttel festzuhalten und Geld aus dem Portemonnaie zu fischen. Die
Stoßdämpfer hatten den Kampf gegen die Löcher längst aufgegeben.
Auf dem zentralen Omnibusbahnhof, dem
riesigen Platz vor dem Flussbahnhof,
wirbelte der Wind Staub auf. Auf dem Strom fuhren wenige Schiffe, die Wirtschaft
lag danieder. Er befürchtete schon, sich Zeit oder Ort falsch eingeprägt zu haben,
als sie kam, er kannte ihren energischen Gang. Sie trug ein locker geschnittenes
Kleid in hellen Brauntönen, hatte es aus Indien mitgebracht und verlieh ihr das
Aussehen einer Zigeunerin. Oleg, ihr Sohn, war mit, inzwischen groß geworden.
Es gab keinen Fahrplan und wenn es einen
gegeben hätte, könnte man sich nicht
darauf verlassen, erklärte sie. Es war warm, er kaufte am Kiosk Mineralwasser,
bemerkte die sehnsüchtigen Augen des Jungen, nahm eine Literflasche Cola dazu,
er musste es ja nicht trinken. Nach einer weiteren halben Stunde fragte er, ob am
Sonntag ein Bus dorthin fahre. Im Prinzip schon, die Zeiten hätten in der Zeitung
gestanden, aber vielleicht fahre er inzwischen anders. Die Dekanin mit Tochter
kam vorbei, sie fuhren zu Besuch. Böen wirbelten Staub über den Platz und in die
Augen. Eine Frau sprach Tamara an, sie sei eine Freundin ihrer Mutter gewesen.
Schließlich fuhren sie mit der Straßenbahn. Kreischend nahm sie die Kurven,
holperte an tristen Betonblöcken vorbei. Die Gleise hielten die abgefahrenen
Räder widerwillig in der Spur, die Wagen stammten wohl aus der Zeit der
Revolution. Die Polster waren durch Bretter ersetzt worden, Schienenstöße wurden
direkt auf die Sitzenden übertragen, die Federn waren gebrochen oder ausgeleiert.
Auf die Bemerkung er musste schreien die Tram würde bei ihnen im Museum
stehen, schaute sie ihn nur an. Er schämte sich, sie wusste doch selbst am besten,
wie kaputt alles im Land war. Nach ihrer Rückkehr aus dem Westen war sie wie ein
Pferd mit Scheuklappen durch die Stadt gelaufen, um es nicht zu sehen. Die
Straßenbahn ratterte am im Sonnenlicht glitzernden Strom entlang, eine Straße
kannte er. Erinnerungen an die Frau blitzten auf, die er vom Puppentheater her
kannte. Sie war hübsch, lachte gern, hielt die Figur. Indirekt hatte sie nach einer
Flasche Wein angeboten, er könnte bleiben. Es war an Details gescheitert, am
schlechten Gewissen und besonders am Durchfall. Die Tram fuhr über eine
Weiche, rüttelte ihn aus seinen Träumen. Hatte Tamara sein Grinsen bemerkt, es
richtig gedeutet? Ihre Katzenaugen schienen durch ihn hindurch zu sehen
unmöglich zu erraten, was sie dachte. Kein Wunder, dass sie die Tiere mit dem
unbeugsamen Willen liebte. Die Fahrgeräusche erlaubten nur an Haltestellen
Fragen über Gebäude oder den Fluss, der zwischen Häusern, Sägewerken und
Holzkombinaten durchschimmerte. Seine Wissbegier über Dinge, die ihr
gleichgültig waren, hatte sie nie verstanden. Die Erklärung, als ehemaliger
Journalist versuche er, aus Einzelinformationen ein Gesamtbild zu formen, tat sie
achselzuckend ab. Umgekehrt war ihm ihre Grundhaltung fremd, dass alles, was ihr
nicht schadete oder nützte, sie nichts angehe.
Sie kamen zur neuen Flussbrücke,
er kannte die Station, war vor Jahren bei Hilde
und ihrer Mutter zu Besuch, die nach Deutschland ausgewandert sind. Jäh wurde er
aus den Erinnerungen gerissen, kreischend fuhr die Tram in die Umkehrschleife
unter Birkenbäumen. Tamara packte ihn am Arm. „Aussteigen, Endstation. Oleg
war abgesprungen, half seiner Mutter galant beim Aussteigen.
„Wir fahren ein Stück mit dem Bus,
dann gehen wir. Der Wind hatte abgeflaut, es
war warm geworden, sie tranken etwas. Der hoch gebaute Bus rumpelte über die
Landstraße, er sah die Siedlungen am Fluss. Nach drei Stationen stiegen sie aus.
Die asphaltierte Straße führte zwischen Birkenhainen auf der einen Seite und
kleinen Fabriken auf der anderen schnurgerade über einen Hügel. Von der Kuppe
sahen sie weit gegen Osten, in der Ebene verlor sich die Straße im Dunst. Oleg
trottete neben seiner Mutter, redete ohne Unterlass, sie antwortete selten. Weit
dehnten sich Land und Himmel, selten unterbrach ein Auto die Stille.
„Wir sind gleich da, ich sehe die ersten
Grabkreuze.
Tamaras Stimme schreckte ihn auf, er hatte
das erneute Abbiegen nicht bemerkt.
Das Gelände umgaben hüfthohe Eisengitter, die Zufahrt schlängelte sich zwischen
den Grabfeldern durch. Oleg war vorausgelaufen, wies auf ein von einem niederen
Gitter eingefasstes Grab in der dritten Reihe. Wachsblumen steckten in einem
Glas, Unkraut spross. Mutter und Sohn begannen, die lehmige Erde auf dem Grab
zu lockern, zu jäten. Es war zu eng, um zu dritt zu werkeln.
„Vorne rechts sind die Gräber der
Mafiosi, von denen Eirats Frau erzählt hat. Ist
nicht zu verfehlen, die Heldenallee. Wir kommen nach.
Nach einer Wegbiegung sah er die Gräber
der Gangster: Pompös, die Fotos der
Ganoven waren eingraviert, der Boss hatte den größten Grabstein und die dickste
Gravur. Golden glänzten Namen und Daten, die Sitzbänke zum Gedenken an die
Toten waren aus Marmor, die Muttern, mit denen sie im Fundament verschraubt
waren, glänzten golden, der Boden vor der Grabplatte war aus geschliffenem
Marmor, bombastische Laternen hingen davor, als sollte auch nachts jeder lesen
können, wie berühmt die Männer waren. Die Gräber der Bandenmitglieder waren
um das des Anführers angeordnet, schwarze eiserne Ketten hingen über dem
Boden, die Eckpfeiler markierten wie Grundsteine das Eigentum. Friedrich grinste:
Alle Mafiosi waren im Jahr 1993 umgekommen. Die Prunkgräber waren gepflegt
wie Gräber auf einem deutschen Dorffriedhof.
Tamara und Oleg kamen. Sie erklärte
auf die Frage nach dem Todesjahr, damals
habe in der Stadt ein Bandenkrieg getobt. „Schau dir die Visagen auf den Fotos
an, kaum einer, dem man nicht ansieht, was er gemacht hat. Nach kurzem
Nachdenken: „Die Banditen haben die Gräber, die vorne waren, in denen
Wissenschaftler, Schriftsteller, hohe Militärs liegen, nach hinten gedrängt. Auch
meinen Vater! Schau dir die Friedhofsstraße an! Fällt dir nichts auf?
Er guckte. „Na ja, hier ist sie schmal,
dann wird sie breit.
„Genau: Freunde der erschossenen Verbrecher
haben durchgesetzt, dass die
Straße aufgerissen wurde, ihre Gräber nach vorne verlegt wurden, so sind sie in
die ersten Reihen gekommen.
Wieder musste Friedrich lachen. Eine Frau
mit einem Kopftuch an einem Grab
drehte sich um, schimpfte mit böser Stimme zu ihm.
„Die Mutter eines Gangsters. Sie sagt,
auch sie empfinde Schmerz um ihren Sohn.
Dein Lachen sei unpassend. Schweigend setzten sie sich auf die schmale Bank
am Grab ihres Vaters, aßen Kuchen, tranken Mineralwasser. Nachdenklich räumte
er ein: „Und sie hat Recht.
Noch einmal gingen sie zu den Marmorgräbern,
jenen des Adels vergleichbar. Eine
vergrämte Frau kam auf sie zu, begann schnell und wild gestikulierend auf Friedrich
einzusprechen. Verwirrt fragte er, was sie wolle. Tamara erklärte, sie sei nicht ganz
richtig im Kopf, behaupte, sie hätte vom deutschen Staat eine Rente zu
bekommen, sei in einem Lager gewesen, hätte alle Papiere eingereicht. Sie habe
erkannt, dass er Ausländer sei. Sie fragte Friedrich, ob er aus der BRD komme.
Trotz der Warnung Tamaras, nicht zu antworten, bejahte er. Die Alte hielt ihn am
Arm fest, redete auf ihn ein, er verstand fast nichts, so schnell ging ihr Mundwerk.
Er wollte seine Geldbörse ziehen, aber Tamara zischte: „Gib ihr nichts, sie läuft uns
nach, wir kriegen sie nicht mehr los!
Das passte ihm nicht, aber sie hatte ihn
noch nie falsch beraten, kannte ihre
Landsleute. Schnell machten sie sich davon, die Alte humpelte ein Stück nach,
schwang drohend den Stock. Ein schaler Nachgeschmack blieb. Hätte er ihr doch
was geben sollen, damit sie die Deutschen in besserer Erinnerung behalten hätte?
Wenigstens einen.