2.5 Wolga - Nördliche Dwina 1990
Von der Wolga an die Nördliche Dwina
Hilde fasste im Gespräch so rasch auf, dass er glaubte, sie wusste eh schon, was er sagen wollte. Kolleginnen wie sie trugen zur Qualität des Studiums am Deutschlehrstuhl entscheidend bei. Doch spürte Friedrich, sie hatte vor etwas Angst, war sehr zurückhaltend. Als er das Schicksal ihrer Mutter erfuhr, verstand er warum.
Es war eine Überraschung, als sie während einer Pause fragte, ob er sie und ihre Mutter am Sonntag besuchen wolle. Dabei schaute sie unruhig herum, ob jemand zuhörte. Sie schrieb die Adresse auf. „Gegen vier warte ich an der Endhaltestelle der Straßenbahn an der neuen Brücke.“
Er besorgte am Kiosk neben der Tram- und Busstation Blumen und eine Bonboniere, fuhr zum Flussbahnhof, stieg um. Es war Mai, hatte zwei oder drei Grad über null. Die Straßenbahn ratterte die Ausfallstraße entlang, die Holzbänke gaben jede Unebenheit des maroden Unterbaus weiter; die Federung der Wagen war kaputt. Kreischend fuhr die Tram in die Kurven, nachts musste es die Leute aus dem Bett werfen. Es ging unter der Eisenbahnbrücke durch, an Fabriken und Sägewerken vorbei, Berge von Baumstämmen warteten auf die Verarbeitung. Holzhäuser tauchten auf, windschief und renovierungsbedürftig; für private Häuser hatte es kein Material gegeben, die Leute sollten in Wohnblocks umziehen. Manchmal glitzerte zwischen Häusern und Zäunen die Dwina durch. Es fuhren keine Schiffe, das Eis war erst vor wenigen Tagen aufgebrochen.
Wenige Fahrgäste fuhren bis zur Brücke.
graphic Auch am Stadtrand waren graue Wohnblöcke hochgezogen worden. Die Schienen glänzten, die Steine auf dem Bahndamm waren neu. Endstation, er stieg aus. Hilde begrüßte ihn wortkarg, führte ihn in ein zweistöckiges älteres Haus. Ihre Mutter, eine schmale weißhaarige Frau musterte ihn und nickte. Sie sprach ein altertümliches, hart klingendes Deutsch. Er überreichte ihr die Blumen und den letzten Löskaffee, Hilde die Bonboniere, zog im Hausgang ausgetretene Hausschuhe an. In der Küche saß ein alter Mann am Tisch.
„Andrej, ein guter Maler und alter Freund der Familie, er tut sich schwer mit dem Gehen“, stellte Hilde vor. „Er spricht nur russisch.“
Andrej saß im Lehnstuhl, wollte wissen, wie man in Deutschland lebe, ob es stimme, was die Propaganda bringe. Der Gast schilderte Wohlstand und Überangebot an Waren. Gebannt hörten sie zu, fragten nach Alterssicherung und Arbeitslosigkeit. Der Maler wollte Friedrich zeichnen, holte Skizzenblock und Kohle aus der Tischschublade. Die Mutter hatte einen Gugelhupf gebacken, sie tranken Kaffee, naschten Bonbons. „Wir haben lange keinen Kaffee getrunken“, erklärte Hilde. Andrew mümmelte Kuchen, trank hörbar mit Genuss. Mutter bekomme keine Rente und die von Andrew sei klein, davon könne er kaum leben. Hilde berichtete der Mutter, der Gast sein von Russlanddeutschen in Sewerodwinsk eingeladen worden, habe aber kein Visum für die U-Boot-Stadt bekommen.
Der Maler konnte nicht lange zeichnen. „Er bekommt für sein Nervenleiden keine Medizin.“ Andrew zeigte die Skizze, sie war gut. Die Mutter fragte den Gast, ob er es eilig habe.
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe Zeit.“
„Gut“, sagte sie. „Ich habe gekocht und Andrew hat Wein aus Grusinien aufgetrieben. Sie sagen Georgien dazu.“
Das Wohnzimmer war sonst Hildes Schlaf- und Arbeitszimmer, wie die gestapelten Unterlagen zeigten. Es war gedeckt, Salate angerichtet, Fisch und Kartoffel auf den Herd gestellt. Hildes Mutter freute sich, als er zugriff. Andrew trank auf den Frieden zwischen den Völkern, auf die Gesundheit und ein langes Leben.
Dann begann Hildes Mutter zu erzählen. Schleppend zuerst, mit vielen Pausen. Hilde meinte, es strenge sie zu sehr an. Die Mutter tat, als hätte sie nichts gehört. Sie stamme wie viele Deutsche in der UdSSR aus dem Wolgagebiet, sei Lehrerin auf dem Dorf gewesen. 1941 nach Kriegsbeginn seien sie vertrieben worden. Sie könnten mit dem Feind kollaborieren. Sie durften nur das Notwendigste mitnehmen. Das bisschen Geld und die paar Wertsachen brauchten sie unterwegs, um nicht zu verhungern. Insgesamt hat sie zwölf Lager durchgemacht, bis sie in Archangelsk ankam. Große Strecken mussten sie zu Fuß gehen, Teile fuhren sie in Güterwagen, kalt und ohne Essen. Viele haben Märsche und Fahrten nicht überlebt. Erschöpft schwieg die Frau mit dem feinen Gesicht.
„Lass es, Mama, die Erinnerung strengt dich an!“, beschwor sie Hilde.
„Es tut gut, Töchterchen, wenn es rauskommt.“ Sie berichtete über das strenge Regime in den Lagern, erzählte, wie man die Familien trennte, den Ort hat der Autor vergessen. Zwei Güterzüge seien gegenüber gestanden, im einen seien Männer und größere Jungen gewesen, im anderen Frauen, Mädchen und Kinder. Willkürlich habe man Ehepaare und Familien getrennt, die Männer seien nach Sibirien, die Frauen nach Kasachstan oder in den hohen Norden geschickt worden. Unter ihnen sei ein frisch verheiratetes Paar gewesen, sie standen in den Viehwaggons fast gegenüber, dazwischen patrouillierten Posten mit Maschinenpistolen, sie durften nicht rufen oder sich verabschieden. Die frisch vermählte Frau bat den Posten, ihrem Mann das Rasierzeug bringen zu dürfen, zeigte auf ihren Mann. Der fragte den Vorgesetzten und er gestattete es, aber sie dürften kein Wort wechseln. Die Frau stieg hinunter, ging mit dem Rasierzeug im ausgestreckten Arm über die Geleise, reichte es ihrem Mann, schaute ihn lange an, drehte sich um und ging zurück. Die Züge sind abgefahren, jeder in eine andere Richtung, das Paar hat sich nie wieder gesehen. Erschöpft schwieg die alte Frau, starr blickten ihre Augen. Sie war müde, verabschiedete sich und ging schlafen. Andrew war schon fort.
„Ich bin hier geboren“, ergänzte Hilde. In den ersten Jahren sei es schwer gewesen. Ihr Vater, ein Russe, ein guter und fleißiger Mann, sei während der letzten Säuberungen eines Morgens abgeholt worden. „Weder erfuhren wir, warum, noch, was mit ihm geschehen ist. Jetzt bringe ich Sie zur Straßenbahn.“
Traurig fuhr Friedrich zurück, konnte nicht einschlafen, dachte an Frau und Kinder, wie gut sie es doch hatten. Ein halbes Jahr später war er ein zweites Mal bei Hilde. Der Maler war krank, das Bild wurde nie fertig. Die Familie ist später nach Niedersachsen ausgewandert. Sie haben Freunden und Nachbarn nichts von der geplanten Ausreise erzählt, aus Angst, man könnte ihnen die Papiere nehmen. Man wusste nie, wer für den KGB arbeitete, der trotz Perestroika weiterfunktionierte. Viele befürchteten, die alten Methoden könnten auferstehen, es hatte schon oft eine Entspannung gegeben; kaum waren Mutige hervorgetreten, waren sie kassiert worden.
Friedrich hatte Hilde vorgeschlagen, wenn sie sich in der Bundesrepublik eingelebt hätten, einen Film über das Leben ihrer Mutter zu drehen. Sie war einverstanden, auch die Mutter. Nach Monaten kam aus Niedersachsen ein Brief, in dem Hilde um Verständnis dafür bat, auf den Film zu verzichten. Ihre Mutter würde das gesundheitlich nicht durchstehen. Er könne sie gerne besuchen, sie würden sich freuen. Das wollte er, schob es auf, gab schließlich die Absicht auf.