1.3 Probekapitel
3.
Ausgerechnet Regans Revolverblatt fand Hannes nun jeden Tag in seinem Briefkasten, obwohl nie bestellt. Jede Woche erschienen Hetzartikel gegen Naturschützer und ihre Organisationen. Welten lagen zwischen der Zeitung und Redans Büchern, obwohl sich beide mit der Umwelt beschäftigten, wenn auch unter entgegengesetztem Vorzeichen. Redan kämpfte für die Erhaltung der Natur, setzte mitunter Mittel ein, die über das Erlaubte hinausgingen. Das Sex-and-Crime-Blatt Paulsens dagegen verunglimpfte den Natur- und Umweltschutz grundsätzlich, hätte das Rad am liebsten zurückgedreht; teure Anwälte wurden engagiert, um jede Lücke im Gesetz zu nutzen.
Hannes legte Regans Buch beiseite, lief in die Nacht hinaus, an den Peitschenlampen entlang, an denen schmutzig gelbe Nebelfetzen vorbeizogen. Die Aussage des Architekten fiel ihm ein, dass Häuser Schutz vor Kälte, Nässe und Feinden gewähren, Geborgenheit schenken, Einsamkeit erträglich machen, Schwächen verbergen. Einem Impuls folgend fuhr Hannes mit dem Lift ins Hochhauscafé, schaute auf die wie in Watte gepackten Dächer, auf die verschwommenen Farbkleckse der Fenster. Alles war vage geworden, floss ineinander. Nebel verwischt Grenzlinien, verwandelt Sein in Schein.
Verschwommen wie die Gebäude im Nebel tauchten Brocken aus jenem Traum auf, dem er zuerst keine Beachtung geschenkt hatte, der aber öfter kam. Das erste Mal war nur das Gesicht aufgetaucht, später hatte der unheimliche Greis zu sprechen begonnen und zuletzt war er neben ihm gegangen, hatte Ratschläge erteilt. Der Ober riss ihn aus seinen Gedanken, er war der einzige Gast, starrte seit einer Stunde auf die verhangene Stadt - bei einer Tasse Kaffee.
Hannes zahlte, lief durch den Park, verweilte vor dem bronzenen Feldherrn zu Pferd, der in die Ferne stierte. Denkmäler sind Markierungen im Strom der Zeit, ob von Staatsmännern oder Tyrannen. In Geschichtsbüchern steht mehr über Kriege und Katastrophen als über Friedenszeiten, eine Geschichte ohne Höhepunkte wird wohl als Ungeschichte gewertet. Tafeln, die an Geknechtete, Gefolterte und Ermordete erinnern, findet man selten, mitunter in einer Friedhofsecke.
Vor Unscharfwurden ihm einer Villa verweilte er, die Silhouette einer Frau zeichnete sich wie ein Schattenriss im Fenster ab. Sie drückte die Stirn an die Scheibe, wölbte die Hände um die Augen, als könnte sie ihn im Dunkeln sehen. Sie hatte ein schmales Gesicht, große Augen, dunkles Haar. Mit einem Ruck zog sie den Vorhang zu. Klavierspiel erklang, aufgewühlt und zornig, wurde sanfter, schwermütig dann. Minuten stand er im Nieselregen, plötzlich eine schrille Dissonanz – aus. Er schlenderte weiter, wusste, das schemenhafte Bild würde in seine Traumwelt Einzug halten und wie andere Schattenwesen ein Eigenleben beginnen. Wie immer auf seinen nächtlichen Rundgängen tauchten Erinnerungen und seiner Traumwelt marschierte er durch die grauen Häuserschluchten.  auf, begleiteten ihn, so wie in der Kindheit die Telegrafendrähte dieer Eisenbahn: auf und ab, auf und ab. Vergangenes und Verdrängtes meldete sich zu Wort,  mitunter vermischten sich Träume und Erlebtes.
Während er in seinen Tagträumen locker und selbstbewusst auftrat, entsprach die Wirklichkeit eher jenem Morgen, da er auf den Frühbus wartete: Die Frau mit nass glänzendem dunklem Haar und großen Augen kam ihm bekannt vor, er kramte im Gedächtnis, da fuhr der Bus vor, er wurde zum hinteren Einstieg gedrängt. Sich an die Haltestange klammernd neigte er sich über die Sitzenden, entdeckte sie, wandte den Blick nicht ab, bis sie fragend die Brauen hochzog, schließlich das Lächeln erwiderte. Leute stiegen zu und auf einmal stand sie draußen, erwiderte sein Winken. Nun kam die Erleuchtung: Sie war die Klavierspielerin am Fenster, verlängerte die Liste versäumter Gelegenheiten.
Einige Nächte ließ ihn der Traum in Ruhe, dann kam er gleich mehrmals wieder. Eine tiefe Stimme rief seinen Namen, das von Furchen durchzogene Gesicht mit dem stechenden Blick erschien. Der Greis sah ihn an, forderte ihn dann auf, endlich aktiv zu werden, verschwand. Am Morgen fühlte er sich ganz zerschlagen.
Zwei Mitschüler auf der Durchreise besuchten ihn. Siegfried, der ein Mädchen aus der Parallelklasse geheiratet hatte, stellte nach dem ersten Was-ist- aus-dir-und-all- den-anderen-geworden fest: „Hast dich kaum verändert, älter halt...“ Seine Frau - sie war schon in der Schule extrem kurzsichtig - beugte sich über den Tisch, musterte Hannes wie ein Insekt unter der Lupe.
„Älter sind wir alle geworden. Ihr mögt doch Kaffee?“ Durch die mit einer Kommode verstellte Durchreiche hörte er Siegfried sagen: „War immer ein Einzelgänger, hat am helllichten Tag geträumt. Im Job fehlt ihm der Biss.“
„Die Mädchen haben ihn gemocht, wohl weil er anders und“, fügte seine Frau hinzu, „weil er ein Träumer war.“
„Klingt, als hättest auch du für ihn geschwärmt!“
„Alle taten es und er merkte es nicht einmal. Er strahlte etwas aus...“, sie suchte nach einem Vergleich, „wie der lesende Jüngling von Rembrandt im Zeichensaal. Er hat sich völlig ins Schneckenhaus zurückgezogen, hast du bemerkt?“
Siegfried hatte nicht, er war Geschäftsmann. Höhepunkt und Ende seiner romantischen Ära zugleich war die Heirat seiner Jugendliebe gewesen. Er drängte zur Weiterfahrt.
Siegfried hatte Recht: Es kümmerte Hannes nicht, dass Kollegen Sprosse um Sprosse an ihm vorbei aufstiegen. Erika hatte gefragt, ob er denn keinen Ehrgeiz habe. Seine Antwort: Nein, keinen! hatte ihr die Sprache verschlagen. Sie änderte die Taktik, wies auf die Villen der Erfolgreichen hin, auf ihre Reisen in ferne Länder, ihre Urlaubsfilme.
„Fünf Minuten pro Sehenswürdigkeit“, spottete er, „sind wirklich wenig. Im Film kann man jede zehnmal anschauen.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Meyers, du weißt schon, der Bankdirektor, machen eine Weltreise, werden tolle Bilder mitbringen.“
„Ah, wie ich mich freue“, grinste Hannes. „Das Ehepaar Meyer – Meyer mit Ypsilon wohl gemerkt – betritt das Deck, feierlicher Rundgang, Schwenk übers Meer mit Sonnenuntergang, majestätisch natürlich, Abgang. Wer den Film schon gesehen hat, sollte um Wiederholung bitten, seltene Speisen und erlesene Weine haben ihren Preis. Wozu Hitze, Dreck und Moskitos ertragen, wenn es niemand bewundert?“
Während er solch krause Ideen entwickelte, dachte Erika an seine Weigerung, ein Haus zu kaufen, weil er sich nicht mit Handwerkern oder Nachbarn herumstreiten wollte. Dabei hätte ihnen Mutter das Geld geliehen.
Sprachen sie miteinander, redeten sie meist aneinander vorbei. Als Erika verkündete, sie fange wieder zu arbeiten an, verkniff er sich die Frage, warum sie aufgehört hatte: Sie hatten keine Kinder, er aß in der Kantine, die Wäsche kam in die Reinigung, an der Hausarbeit beteiligte er sich. Sie erwähnte, die neue Kanzlei liege in der Nähe der Wohnung ihrer Mutter. Er verbiss sich das Lachen, erinnerte sich an die Mahlzeiten bei der Schwiegermutter, die nach dem Motto gekocht hatte: Geschwindigkeit ist keine Hexerei. Seine Frage, ob sie das Suppenhuhn nicht besser kochen denn braten hätte sollen, bedeutete für ihn das Ende der Hexenküche. Das muss nach der Operation des Schwiegervaters gewesen sein; er war einen Tag früher entlassen worden, aber nicht nach Hause gekommen, sondern hatte sich in seinem Stammlokal einquartiert, genauer bei der Besitzerin, einer Witwe. Dem Skandal war die Scheidung auf dem Fuß gefolgt. Das Wirtshaus lag am anderen Ende der Stadt, sonst wäre Hannes Stammgast geworden. Der Schwiegerpapa hatte enorm zugelegt, aber das war nicht der einzige Grund für seinen frühen Tod: Die üppige Wirtin schien nicht nur den Magen überbeansprucht zu haben. An Erikas Tonfall merkte er, dass sie sich dem Ende näherte, schaltete auf Aufnahme.
„… fange ich wieder beim gleichen Anwalt an.“
„War sicher langweilig, den ganzen Tag allein.“ Die steile Falte auf ihrer Stirn erinnerte ihn, dass sie überall erzählt hatte, er wünsche nicht, dass sie arbeite. Um einer erneuten Auseinandersetzung zu entgehen, machte er sich zur Eckkneipe mit dem beleuchteten Bierglas über dem Eingang auf den Weg. Die Straßenlampen an den von Haus zu Haus gespannten Drahtseilen schaukelten im Wind. In die Kneipe kamen Arbeiter nach der Schicht, zu später Stunde Taxifahrer und Strichmädchen zum Aufwärmen. Der Wirt, in jungen Jahren Boxer, entschied, wer genug hatte, da half kein Bitten, kein Wedeln mit einem Zehner.
Der Gegensatz zwischen Kneipengästen und Erikas Bekannten hätte kaum größer sein können. Selten ließ sich Hannes überreden, mitzugehen, die Einladung ihres Chefs war eine Ausnahme. Die Herren rauchten im Salon, er saß mit einem Maler bei den Damen. Eben wurde der junge Dirigent, der das Orchester aus dem Dornröschenschlaf geweckt hatte, durch den Kakao gezogen. „Er springt herum wie ein Kasper, degoutant geradezu!“ Das Organ der Frau, deren großzügiger Ausschnitt erkennen ließ, dass nichts da war, das zu verbergen sich gelohnt hätte, schrillte durch den Raum. Nun war die Solistin an der Reihe. „Dieses dünne Stimmchen, weder Beifall noch Blumen hat sie verdient! Jede von uns hätte das gebracht...“
Hannes schauderte beim Gedanken, die von der Natur so stiefmütterlich Bedachte könnte ein Lied zum Besten geben.
Gegen zehn zogen sich die Herren wieder zurück, bis auf ihn und den Maler, dem die Frau des Gastgebers ein Bild abkaufen wollte. „Eine dringende Besprechung“, verkündete der Hausherr und bat, die Damen zu unterhalten. Am vom Hals in die Wangen steigenden Rot erkannte Hannes, dass sich Erika ärgerte, nicht zugezogen worden zu sein.
„Frau Krause hatte im Theater ein Kleid an, sehr gewagt“, ging das Sticheln weiter, „in dem Alter!“ Es folgte ein Loblied auf die Schnellstraße und den Zeitgewinn.
„Der rasche Themenwechsel irritiert“, sagte Hannes über die Schulter zum Maler, drehte sich um. Der Künstler schlief wie ein Huhn mit halb offenen Augen, den Kopf an die Säule gelehnt. Der Klatsch wandte sich dem Pastor zu. „Hat er nicht bei der Friedensdemo mitgemacht, sogar den Aufruf zum Ausstieg aus der Kernenergie unterzeichnet - wo doch der Ministerpräsident persönlich die Sicherheit des Atomkraftwerks garantiert hat?“ Die Anklägerin schaltete eine dramaturgisch wirkungsvolle Pause ein, die Hälse reckten sich. „Der Pastor nimmt nicht zur Kenntnis: Ein Drittel des Kirchenvorstandes hat ihm die Stimme verweigert, ich auch.“ Empört schnaubte sie ins Taschentuch.
Die Hoffnung, sie würde den Faden verlieren, erwies sich als frommer Wunsch, der Kirchenvorstand war dran. Aber Hannes passte nicht auf, das unheimliche Gesicht des Alten war wieder erschienen, dieses Mal am helllichten Tag. „Ist dir deine Zeit nicht zu schade?“, fragte der Greis. Das Antlitz verschwand, das Geschwätz ging weiter.
„Sogar der Bischof soll zweifeln, ob der Neue der Gemeinde gewachsen ist!“ Hannes überlegte, ob das gegen den Pastor oder gegen die Gemeinde sprach. Eine vollbusige Frau mit grell geschminkten Lippen, blondem Toupet und schlaffem Hals rief: „Er hat gepredigt, die Masse der Bevölkerung habe die Naziverbrechen hingenommen! Sollen unsere Enkel noch in Sack und Asche gehen? Schließlich haben wir Milliarden gezahlt! Wie lange noch Wiedergutmachung?“
Nun konnte sich Hannes nicht mehr zurückhalten. „Der Tod eines Angehörigen kann doch nicht durch Geld wieder gut gemacht werden!“
Die einsetzende Stille schreckte den Maler auf, er rief: „Bravo, bravo!“ Die Hausherrin warf ihm einen vernichtenden Blick zu, er verstand die Welt nicht mehr, sonst hatte es immer gepasst.
Hannes fuhr fort: „Die Mittel für Überlebende und für Israel waren in Ordnung, sie wecken aber keine Toten auf.“ Gerade waren die Männer zurückgekommen, glotzten ihn an wie ein Tier im Zoo, die Dame neben ihm rückte mit dem Stuhl ab. Ein Schmerbauch mit Glatze fragte: „Wer um Himmels willen ist denn das?“
Unbeirrt fuhr Hannes fort: „Keiner, der überlebt hat und kein Angehöriger wird die Ansicht teilen, Geld wiege Leid, Folter und seelische Qualen auf.“
Sekundenlanges Schweigen, bis Gespräche und Gelächter wie auf Kommando wieder einsetzten. Die Dame mit den klirrenden Armbändern fuhr fort, als wäre sie nie unterbrochen worden: „Der Pastor billigt sogar die Rentenansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter! Ein Fass ohne Boden: Polinnen und Ungarinnen, die Trümmer wegräumten, verlangen Entschädigung, als hätten nicht alle Übermenschliches geleistet!“ Hart klopften ihre Ringe auf den Tisch. Zustimmendes Gemurmel.
Der Maler, der die Chancen eines Bilderverkaufs inzwischen realistisch einschätzte, wandte ein: „Die Trümmerfrauen bekommen auch Rentenzeiten angerechnet.“
Empört hielt man ihm entgegen: „Aber das sind unsere Leute!“
Hannes stand auf, wandte sich dem Ausgang zu. Die Gastgeberin fing ihn ab. „Sie wollen schon weg? Hat Sie jemand gekränkt? Sie sind doch nicht, nein, das kann nicht sein, sonst hätte Erika nicht..., oh pardon...“ Kalt glotzten ihn ihre Fischaugen an.
Im Begriff, grußlos zu gehen, hängte sich Erika bei ihm ein, bedankte sich für den Abend und wies auf die Überarbeitung ihres Mannes hin. Zu Hause fuhr sie ihn an: „Du hast die Frau meines Chefs blamiert und die Gäste schockiert!“
Er war selbst überrascht, sich gegen alle gestellt zu haben, früher wäre er einfach gegangen. Es gab ein Nachspiel, die Frau des Anwalts rief an. Bevor er auflegen konnte, flötete sie: „Lieber Herr Werner, das wäre nicht nötig gewesen, finde ich aber ganz reizend!“
„Ich weiß nicht ...“ stotterte er.
Sie fiel ihm ins Wort: „Die hübschen Blumen mit Karte kamen eben, danke und grüßen Sie Ihre Frau!“
„Das muss ein ...“ Den Irrtum hörte sie nicht mehr, hatte aufgelegt. „Du Biest!“ rief er in den tauben Hörer. Am Abend stellte er Erika zur Rede: „Du hast für mich Blumen abgegeben, ich habe nichts Falsches gesagt.“
Kurz angebunden gab sie zurück: „Du wirst es künftig unterlassen, meine Leute zu vergraulen!“
Es war das letzte Mal, dass sie gemeinsam zu einer Veranstaltung gingen, das Zusammentreffen im Haus der Architekten war zufällig. Er lehnte an der Wand neben dem Büfett, drehte das Glas zwischen den Fingern und überlegte, sich davonzustehlen, als eine dunkelhaarige Frau auf ihn zusteuerte.
„Wagen Sie ein Tänzchen?“
„Meinen Sie mich?“
Lächelnd nickte sie.
„Nehmen Sie es mir nicht übel, ich mache mir nichts aus der Hopserei. Sie verzeihen hoffentlich.“ Leise setzte er hinzu: „Wenn nicht, geht die Welt nicht unter.“
Sie lachte. „Nein, das wird sie nicht. Erinnern Sie sich? Die Haltestelle, der Bus...“
Er schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Oh Gott, ich Esel!“
Hell lachte sie auf, stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn auf die Wange. „Aber wahrscheinlich der einzige ehrliche Mensch hier.“
In diesem Moment kam seine Frau dazu. „Du hier? Das ist eine Überraschung! Du unterhältst dich offenbar gut, willst du nicht vorstellen?“
Der spitze Ton zerstörte die Stimmung, dennoch konnte er das Grinsen nicht unterdrücken. „Wollen schon, weiß nur den Namen nicht.“
„Du lässt dich küssen und weißt nicht, wie die Dame heißt?“
„Ersteres kann ich schlecht leugnen, das zweite können wir nachholen.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Hannes Werner, meine Frau, wie Sie vermutlich erraten haben.“
Die Dunkelhaarige ging auf das Spiel ein, machte einen Knicks. „Ilse Selters, es war nett, Sie wieder getroffen zu haben.“
„Ich wollte Sie nicht vertreiben, bin froh, wenn sich mein Mann amüsiert, der Eigenbrötler.“
„Ich vermute eher“, entgegnete die andere, „er meidet Menschen, die ihn langweilen. Ich wollte ohnehin gehen, hat mich gefreut.“
Erika glaubte ihm nicht, dass er die Frau nicht kannte. Er wunderte sich über den Anfall von Eifersucht, hatte sich ihr Sexualleben doch bald nach der Hochzeit auf das von ihr festgelegte Maß beschränkt, war weniger geworden, schließlich zum Erliegen gekommen. Jeder Ofen geht aus, wenn nichts nachgelegt wird. Unbegreiflich war ihm der fremde Geruch Erikas, besser der abhanden gekommene Körpergeruch. Früher wäre ihm das nicht aufgefallen, die Empfindlichkeit seines Riechorgans musste zugenommen haben.
Längst ging jeder eigene Wege. Erika traf sich mit Leuten, die ihrem Lebensstil entsprachen, unterließ vergebliche Erziehungsversuche, hatte eingesehen, es lohnte nicht, mit ihm zu streiten: Kritik glitt an ihm ab wie Regen am Ölzeug. Als sie ihm wieder einmal vorwarf, nichts für seine Karriere zu tun, gab er zu: „Schon deine Mutter hat mich als taube Nuss eingestuft: kein Amt, keine Auszeichnung, kein Titel, nicht einmal Vorsitzender des Kaninchenzüchtervereins. Und?“
Sie entgegnete: „Aber Rad fahren, nachts durch die Stadt laufen und träumen kann doch nicht alles sein!“
Die Schatten waren lang geworden, Nebel stieg vom Fluss hoch, strich über die abgeernteten Äcker. Knarrend zerrte das Boot an der Kette, Nebelschleier tanzten über den See. Fröstelnd saß er auf einem umgestürzten Birkenstamm, das Schreien der Wildgänse schreckte ihn auf. Mit gestrecktem Hals flatterten sie über den See, kreisten übers Schilf, beäugten ihre Schlafplätze, ließen sich nieder. Zögernd setzte die Dämmerung ein, nichts rührte sich, Moor und See schienen zu schlafen. Da hörte er seinen Namen rufen, leise, aber deutlich. „Hannes!“ Und: „Hannes, komm zu mir!“ Das Ruderboot lag an der Kette, weit und breit kein menschliches Wesen. Und wieder das feine Rufen: „Hannes, komm zu mir!“
Er spähte umher, fasste sich mit der Hand an die Stirn: Halluzinationen, Fieber? Vor sich im Wasser bildeten sich konzentrische Kreise, als hätte jemand einen Stein hineingeworfen. Die Oberfläche zitterte, als mühte sich etwas, nach oben zu gelangen. Verschwommen wie hinter Milchglas erschien ein Mädchengesicht, wurde deutlicher. Traurig blickten die Augen zu ihm auf. Hannes suchte das zum Spiegelbild gehörende Objekt - nichts. Er zwickte sich in den Arm, das Antlitz im Wasser blieb. Hell leuchteten die Haare, der Kopf wiegte sich im Takt einer schwermütigen Melodie. Gebannt starrte er auf die Erscheinung, wollte ihr zurufen, brachte keinen Laut hervor. Das Flehen in ihren Augen schnitt ihm ins Herz, dann löste sich das Spiegelbild auf.
Benommen ging er zurück, fuhr den Hohlweg hinunter, verstaute das Rad, kauerte sich auf dem Rücksitz zusammen. Es war stockdunkel, als er vor Kälte schlotternd erwachte, auf die Hauptstraße steuerte. Plötzlich bremste er, das Auto hinter ihm kam ins Schleudern, der Fahrer hupte und blinkte. Hannes ließ den Wagen auf den Randstreifen rollen, blieb stehen, saß starr hinter dem Lenkrad. Das Antlitz des Mädchens hatte sich in seine Seele gebrannt, die Sehnsucht ein Ziel gefunden.